Rehabilitiert die Mauerschützen!

Zahlt ihnen ihre Pensionen aus. Sie gehören zu uns, sie waren und sind um nichts schlechter als wir.

52 Jahre ist es her, da sprach Walter Ulbricht: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“. Zwei Monate darauf begann die DDR mit dem Bau der Berliner Mauer – die letzte Lücke im eisernen Vorhang wurde geschlossen. Wie viele tausend Menschen danach bei dem Versuch, diese mörderische Grenze zu überwinden, ihr Leben lassen mussten, ist bis heute umstritten. Unumstritten ist in der „westlichen“ Geschichtsschreibung die moralische Verwerflichkeit dieser Grenze, hinderte sie doch Millionen daran, der kommunistischen Diktatur den Rücken zu kehren und nach freiem Willen auszureisen. Jahrzehnte später wurde einigen Verantwortlichen der Prozess gemacht, und sinngemäß verantworteten sich alle gleich: „Was hätten wir den tun sollen? Unsere Länder wären vor die Hunde gegangen, hätten wir diesen Massenexodus weiter zugelassen“ – das sagten die Politiker. Und jene, die vor Ort auf Flüchtende schossen? „Wir haben doch nur geltendes Recht befolgt!“ Verurteilt wurden sie trotzdem, nicht zuletzt mit dem Argument, dass es Gesetze (nämlich jene gegen die „Republikflucht“) gibt, die einfach nicht befolgt werden dürfen, weil sie gegen jahrhundertealte Grundregeln verstoßen: wer unbewaffnet flüchtet, auf den darf nicht geschossen werden.

Zu fliehen versuchten damals viele, lange nicht alle politisch verfolgt, sie wollten einfach nur ein besseres Leben, vor allem aber: eine Perspektive, die ihnen der real existierende Sozialismus nicht bieten konnte. Hätten die kommunistischen Parteien des ehemaligen Ostblocks das zugelassen, ihre Länder wären tatsächlich innerhalb weniger Jahre kollabiert, schwere Unruhen und womöglich der Tod zigtausender wären die Folge gewesen.

Heute steht eine neue Mauer rund um Europa, an manchen Stellen buchstäblich höher und mörderischer als der eiserne Vorhang, an anderen Stellen erledigt die Natur, wofür seinerzeit noch Gewehrkugeln nötig waren: beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu flüchten, sind mittlerweile weit mehr Menschen ums Leben gekommen als am eisernen Vorhang. Und wieder flüchten nicht nur Verfolgte, sondern in großer Zahl Menschen, die ausweglosen Verhältnissen ohne jede Perspektive den Rücken kehren – Verhältnisse, die in mancher Hinsicht um vieles schlimmer sind als im sogenannten Ostblock in seinen finstersten Zeiten. Und wieder spielen sich entsetzliche Dramen ab, werden Grundregeln der Menschlichkeit gebrochen, nein: Europa schießt nicht, aber Europa sieht zu, wie Menschen zu hunderten ersaufen. Unmittelbar vor seiner Küste, und im Wissen darum, dass sie da sind – die heillos überladenen Boote werden Stunden, wenn nicht Tage vor ihrer Ankunft von Sateliten und Radar ausgemacht.

Und wieder heißt es: „Was sollen wir denn tun? Unser Europa geht vor die Hunde, wenn wir sie alle einlassen!“ Und wieder werden Gesetze (diesmal solche gegen „Schlepperei“) befolgt, die gegen jahrhundertealte Grundregeln verstoßen. Denn wer in Seenot ist, den darf man nicht ertrinken lassen. Und wieder stimmt: ließe Europa diese Massenflucht zu, nähme es unbesehen alle auf, die hierher wollten, es würde kollabieren, schwere Unruhen und womöglich… siehe oben.

Ja, aber, heißt es dann: die Kommunisten waren doch selber schuld, hätten sie nicht ihre Völker unterdrückt, nicht so völlig versagt, dann wären die Leute doch geblieben? Wir Europäer hingegen, wir können doch nichts für die schlimmen Verhältnisse in Afrika oder Asien?

Nebbich. Wir wissen heute, dass die aktuellen Migrationsströme viele Ursachen haben, und nicht wenige davon sind – auch ganz aktuell – von Europa mit verschuldet. Europas Fangflotten fischen afrikanische Küsten leer, europäische Konzerne beteiligen sich munter am landgrabbing, europäische Firmen beliefern Despoten seit Jahrzehnten mit Waffen – die Liste könnte lange fortgesetzt werden. Wie groß der Einfluss Europas auf die Verhältnisse jener Länder ist, aus denen derzeit Hunderttausende flüchten, darüber kann gestritten werden, aber dass er real existiert, steht außer Zweifel. Freilich gibt es eine Vielzahl anderer Akteure, die zu diesem Massenexodus beitragen – aber die gab es in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts auch, was die Zustände im Ostblock betrifft – und lange nicht alle saßen in Ostberlin, Warschau oder Moskau.

Dabei sind jene Politiker, die heute für die neue Mauer rund um Europa verantwortlich sind, alles andere als Monster: innerhalb ihrer Logik handeln sie verantwortungsbewusst, weil sie sich eben ihren eigenen Gesellschaften und Nationen verpflichtet fühlen. Sie können – als Einzelpersonen – genau so viel oder wenig dafür, dass eine entfesselte globalisierte Wirtschaft in Afrika und Asien Hunderttausende vertreibt, wie die Offiziere der Volksarmee für das Versagen des real existierenden Sozialismus. Sie müssen (wie gesagt: innerhalb ihrer Logik) zulassen, dass eine mörderische Natur genau jenes Geschäft erledigt, für das noch vor 50 Jahren Soldaten eingesetzt wurden. Sie haben keine Alternative, jedenfalls keine, die innerhalb ihres Systems denkbar wäre: sie müssen das Leid weniger in Kauf nehmen, um die Errungenschaften für Millionen, erarbeitet in Jahrzehnten, zu schützen. Damals wie heute: die gleiche Logik.

Zu dieser Logik gehört übrigens auch, dass die Flüchtenden dämonisiert werden. Damals waren sie „Faschisten“ und „Saboteure“, heute nennt man sie „kriminell“ oder „Scheinasylanten“. Im Kommunismus erfolgte das alles zentral gesteuert, wir im neuen, besseren Europa überlassen das Dämonisieren ganz demokratisch den rechten Parteien und dem Boulevard. Das Ergebnis ist das gleiche – tausendfacher Tod. Die Antwort auch: es tut uns leid, wir können nicht anders.

Sitzen eigentlich heute noch irgendwo Mauerschützen oder Verantwortliche für den eisernen Vorhang in Haft? Wenn ja: setzt sie auf freien Fuß! Rehabilitiert sie, zahlt ihnen ihre Pensionen aus! Sie gehören zu uns, sie waren und sind um nichts schlechter als wir. Denn eines sollte uns allen klar sein: wenn wir im freien, demokratischen Westen dem Kommunismus jemals moralisch überlegen waren: diese Überlegenheit ist, gemeinsam mit tausenden jämmerlich im Mittelmeer krepierten Menschen, untergegangen.

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