Canetti und die Polizei

Die wieder lauter gewordene Kritik an Wiens Polizei lässt mich an einen Einsatz zurückdenken, den ich vor Jahren beobachtet habe und heute noch bewundere: für den Mut und die Intelligenz, die dabei zum Ausdruck kamen.

Es war, wenn ich mich recht erinnere, wenige Wochen nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Frühjahr 2008, da gingen tausende von in Wien lebenden Serben (und einige andere) auch in Wien auf die Straße, um gegen die Ankerkennung dieser ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik zu demonstrieren. Nach einer lautstarken, aber völlig friedlich verlaufenen Demonstration fanden sie sich zur Abschlusskundgebung auf dem Heldenplatz, begleitet von Hundertschaften gut ausgerüsteter Polizei. Die Beamten, viele von ihnen in schwerer „Turtle-Montur“, hatten aber kaum etwas zu tun und hielten sich im Hintergrund.

Plötzlich, mitten während der noch auf der Bühne andauernden Reden, spaltete sich eine Gruppe von vielleicht tausend, überwiegend jungen (und ziemlich fitten) Menschen ab und lief über den Ballhausplatz und die Währinger-Straße Richtung Boltzmanngasse – man hatte sich wohl verabredet, dort, vor der US-Botschaft, „spontan“ gegen die Unterstützung der USA für den unabhängigen Kosovo zu demonstrieren. Konnte das aber nicht, weil die Wiener Polizei die Boltzmanngasse beidseitig abgeriegelt hatte.

Im gestreckten Galopp liefen diese jungen Leute weiter, und sie liefen allein: die meist schwer bepackten PolizeibeamtInnen kamen zu Fuß nicht mit und brauchten lange, um auf ihre Mannschaftswagen „aufzusitzen“. So ging es, unbegleitet vom Auge des Gesetzes, hinauf bis zum Gürtel, und den Gürtel hinunter bis zur Ottakringerstraße, wo die Menge schließlich vor einem im 16. Bezirk bekannten albanischen Lokal halt machte. Grade mal ein Dutzend Uniformierter hatte es geschafft, mit ihr Schritt zu halten.

Es sollte lange – eine halbe Stunde oder mehr – dauern, bis Polizeikräfte in größerer Zahl vor Ort eintrafen – und sie kamen keine Minute zu früh. Denn auf der Ottakringer Straße war die Lage bedrohlich geworden. Aus dem albanischen Lokal heraus schnitten einige Gäste der immer wütenderen Menge noch Grimassen, während das wackere Dutzend Uniformierter nicht mehr tun konnte als mehr oder weniger todesmutig vor der Fensterscheibe des Lokals Aufstellung zu nehmen – und zu hoffen, dass man nicht überrannt wurde. Erste Gegenstände flogen Richtung Lokal, Bierdosen, Flaschen, vielleicht auch Steine. Die Stimmung war zum Zerreißen gespannt.

Endlich also Verstärkung, jetzt aber gleich von mehr als hundert Mann. Was sollten sie tun angesichts dieser brisanten Lage? Schließlich waren die Gäste im Lokal akut gefährdet (wenn auch vielleicht nicht ganz ohne ihr Zutun)? Knüppel frei und Straße räumen? Verletzte auf beiden Seiten riskieren? Oder einfach zusehen, wie Flaschen, Dosen und alles Mögliche sonst geflogen kam, bis es erst recht wieder Verletzte gab?

Wer immer diesen Einsatz geleitet hat, hatte eine andere Idee: links und rechts von der Menge, entlang der Hauswände, ließ er (oder sie?) über vielleicht 100 Meter zwei Reihen von Beamten aufmarschieren. Leise, ohne großes Aufsehen, beinahe höflich schlängelten sie sich zwischen Hauswand und Menge hindurch. Um dann, auf ein einziges, leises Kommando hin, wie in einer einstudierten Choreographie an mehreren Stellen um 90 Grad zu schwenken und von beiden Seiten her Doppelreihen quer über die Straße zu bilden, die sich in der Mitte trafen. Langsam, wie selbstverständlich gingen die Beamten zwischen den immer noch lauthals protestierenden, immer noch wütenden Menschen durch – bis die Doppelreihen geschlossen waren und die eine, einzige, wütende Masse sich mit einem Mal in mehrere Gruppen zerteilt sah.

Der Rest war Routine und angewandte Psychologie: die Doppelreihen wurden, wiederum ruhig und gemächlich, auseinander gezogen – und die verbliebenen Gruppen dieser jungen, aufgebrachten Menschen so immer weiter voneinander entfernt. Und mit jedem Schritt, den die Reihen der Polizisten voneinander weg machten, mit jedem Meter ruhigem Raum, der so zwischen diesen immer noch lauten Gruppen geschaffen wurde, fielen die Pegel von Energie, Aggression und Lautstärke unter den Protestierenden. Aus einem unberechenbaren Haufen, der haarscharf davor war, zum gewalttätigen Mob zu werden, aus einer Masse, in der jede/r einzelne in der Anonymität verschwand, waren innerhalb von Minuten wieder Menschen geworden, die rasch erkannten, dass sie – eben Menschen waren. Die zu sich fanden (und vielleicht auch erkannten, dass jetzt noch Steine zu werfen keine so gute Idee wäre) – und sich rasch zerstreuten.

Fünf Minuten später war die Situation bereinigt, 15 Minuten später war die Straße leer. Kaum, dass irgendwo ein Knüppel eingesetzt wurde, kein Pfefferspray, so weit ich mich erinnere, gab es vor Ort nicht einmal Festnahmen. Die Polizei war einfach da, hatte eine kritische Masse kurz vor ihrer Explosion still und leise in unkritische Teilmengen zerlegt – und damit die Gefahr beseitigt. Hatte Leben, Gesundheit und Eigentum geschützt, und das alles praktisch ohne Gewalt.

Für diesen Polizeieinsatz – für alle, die an ihm beteiligt waren, vor allem aber jene, die ihn geleitet haben – habe ich heute noch Respekt. Schade, dass es von diesem Einsatz kein Video gibt, es hätte das Zeug zum Lehrfilm für Jahrzehnte – nicht nur für PolizeischülerInnen, auch für alle, die sich mit dem Phänomen der Masse beschäftigen. Elias Canetti jedenfalls hätte seine Freude gehabt.

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